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Thema: Wenn die Eltern älter werden
Hier eine Geschichte von eine Tochter die ihre Mutter ins Altersheim brachte...
Mutters Weg ins Altersheim
Meine Mutter ist aus Glas. Ihre Haut ist durchsichtig.
Sie wiegt nur noch vierunddreißig Kilo, denn sie hat einen Hungerstreik hinter sich. Wenn sie noch ein Mal hinfällt, geht sie in Scherben.
Sie hat zwölf Stunden auf der Terrasse ihrer kleinen Wohnung gelegen, bis sie jemand entdeckte. Sie hat sich das Gesicht aufgeschlagen und den rechten Arm verstaucht.
Du musst dich einrollen, wenn du hinfällst", sage ich, als ich sie im Spital besuche. ĄSo wie es die Torhüter machen."
Hä? In meinem Alter gibt es nichts mehr einzurollen."
Meine Mutter trinkt. Ein Gläschen Cognac am Morgen, am Mittag und am Abend. Ich kann ihr das nicht verbieten. In ihrem Alter gibt es nicht mehr viele Dinge, die mehr Spaß machen als ein Gläschen Cognac. Ich will nur, dass sie kontrolliert trinkt und kontrolliert hinfällt. ĄDu weißt, warum du hingefallen bist", sage ich.
Nein. Man hat keinen Alkohol im Blut gefunden."
Das ist eine so clevere Antwort, dass ich sie gar nicht überprüfen will. Ich lache, beuge mich über sie und küsse sie auf die Wange. Sie will auch auf die andere geküsst werden, zeigt das mit dem Finger an. Ihre Haut ist wie Seidenpapier.
Die nächsten drei Wochen verbringe ich damit, mir Altersheime anzusehen.
ĄNein", sagt meine Mutter, als sie wieder in ihrer Wohnung ist, ich will nicht weg hier. Ich will nicht in ein Altersheim."
ĄDu musst mehr essen", sage ich, denn es ist ihr anzusehen, dass sie langsam zerfällt. Ich lege ihr Lachs in den leeren Kühlschrank und bringe Schokolade mit.
Aber als ich zwei Tage später wieder komme, liegt der Lachs noch immer unangerührt im Kühlschrank. Dabei hat sie nichts lieber als Lachs. Ich schmiere Butter auf ein Brötchen und lege zwei Lachsschnitten drauf.
Ich gehe nicht weg, ehe du das gegessen hast", sage ich.
Nach drei Wochen wird durch einen Todesfall ein Platz im schönsten Altersheim frei, das ich auf meiner Suche gesehen habe. Das Zimmer ist groß, geräumig und sonnig, ebenerdig und mit einem Ausgang in einen kleinen Park. Vor dem Fenster blüht ein Kirschbaum.
ĄDein Vater hat immer darauf geachtet, dass wir nie in eine Parterrewohnung müssen", sagt meine Mutter. Ich hole die Cognacflasche.
Nein", sagt meine Mutter, Ąich will hier nicht weg."
Meine Schwester hilft mir beim Packen. Wir finden überall Hunderternoten. Unter der Bettwäsche, in der Bibel, zwischen Briefschaften. Mutter liegt derweil im Bett, dreht sich der Wand zu und weint. Ich setze mich ratlos aufs Bett und streichle ihren klein geschrumpften Kopf, das schüttere Haar. Sie greift nach meiner Hand und sagt: Und was ist mit den Möbeln?"
Oh, das ist doch schon ein Gedankenschritt nach vorn. ĄDeine Möbel", sage ich, kannst du mitnehmen". Natürlich nicht alle, aber das sage ich ihr jetzt noch nicht.
Am Tag, bevor die Möbelpacker kommen, schläft sie bei mir. Ich habe Briefpapier für sie gedruckt, denn ich bin sehr beeindruckt von der vornehmen Adresse meiner Mutter: SCHULTHESS VON MEISS-STIFT.
ĄSchulthess", sagt meine Mutter, hieß der übelste Hausmeister, den wir je hatten. Er wohnte im Parterre."
Wir füllen die Anmeldeformulare aus. Mutter will, dass ich unter Beruf SÄNGERIN eintrage. ĄAber du warst Jodlerin", sage ich. Wenn man Sängerin hört, stellt man sich gleich eine Oper vor".
Mutter beharrt auf Sängerin:Schließlich habe ich im Radio gesungen und Schallplatten gemacht. Mit dem Walzer Karl und dem Geissbergchörli."
Mir soll's recht sein. Vergangene Woche habe ich mit meinem Sohn ein Remake von Mutters erster Schallplatte gemacht, die Stimme quantisiert und mit einem Trance-Sound unterlegt. Das weiß sie aber noch nicht.
Als meine Mutter zum ersten Mal ihr Zimmer betritt, ist alles eingerichtet. Über dem Bett hängt wie früher der gekreuzigte Heiland mit der weinenden Muttergottes. Die gibt es auch noch in der Botticelli-Version, gleich neben dem Bauernschrank.
Mutters Gesicht ist verwirrt. Ich merke, dass sie etwas Zeit braucht, um die ihr vertrauten Möbel in die neue Umgebung einzuordnen.
ĄUnd wo ist die Joseph-Statue?" fragt sie. Und der Rosenkranz aus Muscheln?"
ĄVielleicht sollte man es nicht übertreiben", sage ich, das ist hier ein reformiertes Heim, geleitet von den Neumünster Diakonissinnen."
ĄHä", sagt sie, Neumünster? Du bist im Neumünster-Spital auf die Welt gekommen, und es hat keine Diakonissin gestört, dass ich dir immer ein Kreuzchen auf die Stirn machte, wenn man dich mir gebracht hat."
Ich schalte beiläufig den CD-Player ein, den ich für sie gekauft habe und den sie noch gar nicht gesehen hat. Mutters junge, glasklare Stimme schwingt durch das neue Zimmer und lässt sich nieder auf den alten mir seit meiner Kindheit vertrauten Möbeln. Mutter richtet sich kerzengerade auf und legt den Stock weg, den ich ihr verordnet habe. Dann macht sie auf ihren mageren Beinchen ein paar Tanzschritte und krächzt ein bisschen mit. Unvermittelt bleibt sie stehen und sagt: ĄDarf man hier auch singen?" Sie nimmt den Stock wieder und setzt sich in ihren alten Schaukelstuhl. Es ist Zeit, die Cognacflasche auszupacken.
Ich bin jetzt auch alt", tröste ich meine Mutter, während wir anstoßen, Ąnicht so alt wie du, aber auch alt."
Mutter wippt zum Takt ihrer Stimme, das Cognac-Glas in der linken Hand. Dann hält sie mit Schaukeln inne, beugt sich vor und zeichnet mir mit dem Daumen der rechten Hand ein Kreuz auf die Stirn.
von Krapp
Mutters Weg ins Altersheim
Meine Mutter ist aus Glas. Ihre Haut ist durchsichtig.
Sie wiegt nur noch vierunddreißig Kilo, denn sie hat einen Hungerstreik hinter sich. Wenn sie noch ein Mal hinfällt, geht sie in Scherben.
Sie hat zwölf Stunden auf der Terrasse ihrer kleinen Wohnung gelegen, bis sie jemand entdeckte. Sie hat sich das Gesicht aufgeschlagen und den rechten Arm verstaucht.
Du musst dich einrollen, wenn du hinfällst", sage ich, als ich sie im Spital besuche. ĄSo wie es die Torhüter machen."
Hä? In meinem Alter gibt es nichts mehr einzurollen."
Meine Mutter trinkt. Ein Gläschen Cognac am Morgen, am Mittag und am Abend. Ich kann ihr das nicht verbieten. In ihrem Alter gibt es nicht mehr viele Dinge, die mehr Spaß machen als ein Gläschen Cognac. Ich will nur, dass sie kontrolliert trinkt und kontrolliert hinfällt. ĄDu weißt, warum du hingefallen bist", sage ich.
Nein. Man hat keinen Alkohol im Blut gefunden."
Das ist eine so clevere Antwort, dass ich sie gar nicht überprüfen will. Ich lache, beuge mich über sie und küsse sie auf die Wange. Sie will auch auf die andere geküsst werden, zeigt das mit dem Finger an. Ihre Haut ist wie Seidenpapier.
Die nächsten drei Wochen verbringe ich damit, mir Altersheime anzusehen.
ĄNein", sagt meine Mutter, als sie wieder in ihrer Wohnung ist, ich will nicht weg hier. Ich will nicht in ein Altersheim."
ĄDu musst mehr essen", sage ich, denn es ist ihr anzusehen, dass sie langsam zerfällt. Ich lege ihr Lachs in den leeren Kühlschrank und bringe Schokolade mit.
Aber als ich zwei Tage später wieder komme, liegt der Lachs noch immer unangerührt im Kühlschrank. Dabei hat sie nichts lieber als Lachs. Ich schmiere Butter auf ein Brötchen und lege zwei Lachsschnitten drauf.
Ich gehe nicht weg, ehe du das gegessen hast", sage ich.
Nach drei Wochen wird durch einen Todesfall ein Platz im schönsten Altersheim frei, das ich auf meiner Suche gesehen habe. Das Zimmer ist groß, geräumig und sonnig, ebenerdig und mit einem Ausgang in einen kleinen Park. Vor dem Fenster blüht ein Kirschbaum.
ĄDein Vater hat immer darauf geachtet, dass wir nie in eine Parterrewohnung müssen", sagt meine Mutter. Ich hole die Cognacflasche.
Nein", sagt meine Mutter, Ąich will hier nicht weg."
Meine Schwester hilft mir beim Packen. Wir finden überall Hunderternoten. Unter der Bettwäsche, in der Bibel, zwischen Briefschaften. Mutter liegt derweil im Bett, dreht sich der Wand zu und weint. Ich setze mich ratlos aufs Bett und streichle ihren klein geschrumpften Kopf, das schüttere Haar. Sie greift nach meiner Hand und sagt: Und was ist mit den Möbeln?"
Oh, das ist doch schon ein Gedankenschritt nach vorn. ĄDeine Möbel", sage ich, kannst du mitnehmen". Natürlich nicht alle, aber das sage ich ihr jetzt noch nicht.
Am Tag, bevor die Möbelpacker kommen, schläft sie bei mir. Ich habe Briefpapier für sie gedruckt, denn ich bin sehr beeindruckt von der vornehmen Adresse meiner Mutter: SCHULTHESS VON MEISS-STIFT.
ĄSchulthess", sagt meine Mutter, hieß der übelste Hausmeister, den wir je hatten. Er wohnte im Parterre."
Wir füllen die Anmeldeformulare aus. Mutter will, dass ich unter Beruf SÄNGERIN eintrage. ĄAber du warst Jodlerin", sage ich. Wenn man Sängerin hört, stellt man sich gleich eine Oper vor".
Mutter beharrt auf Sängerin:Schließlich habe ich im Radio gesungen und Schallplatten gemacht. Mit dem Walzer Karl und dem Geissbergchörli."
Mir soll's recht sein. Vergangene Woche habe ich mit meinem Sohn ein Remake von Mutters erster Schallplatte gemacht, die Stimme quantisiert und mit einem Trance-Sound unterlegt. Das weiß sie aber noch nicht.
Als meine Mutter zum ersten Mal ihr Zimmer betritt, ist alles eingerichtet. Über dem Bett hängt wie früher der gekreuzigte Heiland mit der weinenden Muttergottes. Die gibt es auch noch in der Botticelli-Version, gleich neben dem Bauernschrank.
Mutters Gesicht ist verwirrt. Ich merke, dass sie etwas Zeit braucht, um die ihr vertrauten Möbel in die neue Umgebung einzuordnen.
ĄUnd wo ist die Joseph-Statue?" fragt sie. Und der Rosenkranz aus Muscheln?"
ĄVielleicht sollte man es nicht übertreiben", sage ich, das ist hier ein reformiertes Heim, geleitet von den Neumünster Diakonissinnen."
ĄHä", sagt sie, Neumünster? Du bist im Neumünster-Spital auf die Welt gekommen, und es hat keine Diakonissin gestört, dass ich dir immer ein Kreuzchen auf die Stirn machte, wenn man dich mir gebracht hat."
Ich schalte beiläufig den CD-Player ein, den ich für sie gekauft habe und den sie noch gar nicht gesehen hat. Mutters junge, glasklare Stimme schwingt durch das neue Zimmer und lässt sich nieder auf den alten mir seit meiner Kindheit vertrauten Möbeln. Mutter richtet sich kerzengerade auf und legt den Stock weg, den ich ihr verordnet habe. Dann macht sie auf ihren mageren Beinchen ein paar Tanzschritte und krächzt ein bisschen mit. Unvermittelt bleibt sie stehen und sagt: ĄDarf man hier auch singen?" Sie nimmt den Stock wieder und setzt sich in ihren alten Schaukelstuhl. Es ist Zeit, die Cognacflasche auszupacken.
Ich bin jetzt auch alt", tröste ich meine Mutter, während wir anstoßen, Ąnicht so alt wie du, aber auch alt."
Mutter wippt zum Takt ihrer Stimme, das Cognac-Glas in der linken Hand. Dann hält sie mit Schaukeln inne, beugt sich vor und zeichnet mir mit dem Daumen der rechten Hand ein Kreuz auf die Stirn.
von Krapp
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- 14. Juni 2007 1:28
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